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Da muss man doch was sagen ...

Nein. Muss man nicht.

 

Gestern. So ungefähr 03:00 klingelt mein Wecker. Ich stehe auf, weil ich zur Arbeit darf. Alles läuft ganz normal, wenn man davon absieht, dass ich diese Schicht normalerweise nicht habe. Ach ja, und dass ich den Liebsten, der just in dem Moment, in dem ich aus dem Schlafzimmer komme, aus der Badtür taumelt erschrecke und er mir ein "bist du doof?!" entgegenraunt.

Später, in einer kleinen Pause - ich kann es nicht lassen, doch zwischendurch mal Twitter, Facebook und Instagram zu checken - trudeln die ersten Nachrichten ein. Es ist schon wieder etwas passiert. Schon wieder. Ich habe nur Fragezeichen im Kopf. Verstehe nicht, was genau passiert ist, weiß nur, dass sich ziemlich viele Menschen dazu äußern. Twitter wieder zu und alles geht seinen Gang.

Nach Feierabend lande ich nochmal dort. Auf Twitter. Die Nachrichten haben sich gewandelt. Nun heißt es, jeder, der sich nicht äußert, macht sich mitschuldig oder ähnlich. Jeder muss etwas sagen. Äußern wozu? Sagen, was? Ich weiß noch immer nicht, was los ist und bin unglaublich müde. Heute morgen geht es weiter und ja, ich hatte bisher noch immer nicht die Muße, mich zu informieren (der dritte Tag, an dem ich um vier Uhr morgens auf der Arbeit sein darf), was genau schon wieder - schon wieder - passiert ist. Nur am Rande, Bilder im Fernsehen. Eine Schlagzeile in der Bild, die ich für die Kunden im Laden auslege. Mir ist schlecht. Weiterhin aufgebrachte Nachrichten auf Twitter. Und diesmal auch auf Instagram. Menschen, die andere darauf aufmerksam machen, dass etwas passiert ist und dass man doch was sagen müsse. Wer nichts sagt, der ... Jaja, das weiß ich mittlerweile. Heute Mittag, nach Feierabend, ich bin total im Arsch und müde. Drehe das Radio im Auto auf und höre Nachrichten. Natürlich, es ist zwölf Uhr. Wieder irgendwas mit einem Polizeibericht. Wegen gestern. Vorgestern? Mir schwirrt der Kopf.

 

Vorhin eine Instastorie mit dem O-Ton. Man muss nichts sagen.

Mir wird aus dem Herzen gesprochen und das erste Mal verspüre ich den Drang, auch etwas zu sagen. Ich will es, weil ich weiß, es kann etwas ändern. Denn das, was ich sage, sage ich nicht aus den aktuellen Ereignissen heraus, nicht durch meine Müdigkeit, nein, sie entspricht meiner Überzeugung. Ich schreibe in meiner Instastory, dass es doch mehr Sinn ergibt, sich immer für etwas einzusetzen, als sich nur, wie ein Fähnchen im Wind, nach den aktuellen Ereignissen zu drehen. Jeder, der schon einmal versucht hat, abzunehmen, weiß, dass es nichts bringt, mal einen Schokorigel weniger zu essen. Jeder, der ein Buch schreiben wollte, wird gemerkt haben, dass es mit dem ersten Satz nicht getan hat. Eine verbrauchte Plastiktüte weniger im Meer, wird die Milliarden Tiere nicht retten. Uns Menschen nicht retten.

 

Ich sage nicht, dass man nichts sagen soll. Aber ich sage bestimmt, dass man, wenn man etwas tut, das auch für immer tun sollte - und darüber auch gern sprechen darf. Niemand kann sich sein Leben lang in den unterschiedlichsten Bereichen engagieren. Aber jeder einzelne kann sich auf wenige Projekte konzentrieren, hinter denen er wirklich steht, für die er wirklich Energie hat. Denn jeder einzelne hat seine eigenen Werte, die er für sich definieren muss. Ich empfinde es gerade zu als häuchlerisch, wenn man sich der Reichweite wegen (ob nun um sie zu bekommen oder weil man sie hat) zu einem bestimmten Thema äußert, wenn man doch gar nicht dahinter steht - in dem Sinne nur etwas zu sagen, weil man etwas sagen muss, weil ... jaja ... Und ich finde empfinde es nicht als demokratiegerecht, dazu aufzufordern, sich zu äußern und in dem Zusammenhang sogar unter Druck zu setzen. "Wenn du nichts sagst, dann ..." Niemand will abgestempelt werde, also tut man es. Ja, ich weiß, dass wir uns glücklich schätzen sollten, in einem demokratischen Land zu leben. Dass wir das Recht auf freie Meinungsäußerung haben. Aber dazu gehört auch das Recht, nicht von dem Recht Gebrauch machen zu müssen. Genau wie jede Frau ihre Gebärmutter nicht benutzen muss, um Kinder zu bekommen. Genau wie nicht jeder Mensch seinen Allesfresser-Magen-Darm-Trackt nutzen muss, um Fleisch zu verdauen, nur weil er es könnte ;-)

 

Was ändert sich denn wirklich, wenn man etwas sagt? Ja, vielleicht macht Reichweite etwas. Mehr Menschen erfahren von einem Problem. Aber das Problem verschwindet nicht, wenn man andere unter Druck setzt, wenn man sich durch das eigene Handeln über andere stellt, wenn man darüber redet. Probleme verschwinden, wenn man etwas dafür tut, dass Probleme erst gar nicht entstehen.

 

 

Das Gespräch suchen und ja, auch wenn man auf dem ersten Blick sagen möchte, dass man mit den "bösen Nazis" nicht reden kann. Jeder könnte vielleicht etwas genauer hinhören. Vieles von dem, was diese Menschen sich wünschen - manchmal auch sehr provokant -, wird gehört - von Parteien, die es für sich nutzen. Leider bestärken sie den Hass und die Angst nur, anstatt sie den Menschen zu nehmen. Gemeinsam mit Medien, die das ganze nur hochpuschen - wozu auch die sozialen Netzwerke gehören. Selten wird dort Aufklärung betrieben, sondern nur Unmut kundgetan. Denn dazu müsste man die ganze Situation überblicken und reflektieren, sich fragen, was man wirklich tun kann. Und dazu wissen, was wirklich passiert ist. Eine einfache Lösung zu finden - für all die komplexen Probleme in unserer Welt -, ist nicht leicht und nicht in einem Satz erklärt. Man muss sich nicht zu jedem Thema eine Meinung bilden. Und da, finde ich, machen die vielen Kleinigkeiten, die jeder von uns tun kann, den Unterschied. All die losen, oberflächlichen Fäden eines Problems zu fassen, lassen einen irgendwann in einem Knäul von Wolle hocken. Wir sollten lieber einige wenige Fäden fassen, um den Überblick zu behalten. Um tiefer in die Materie einzutauchen. Und dabei ist es egal, wie und wo man sich engagiert.

 

Etwas tun. Ja, wer von denjenigen, die etwas sagen, tun denn wirklich etwas?

 

Es ist leicht, über andere zu urteilen. Aber diejenigen, die etwas machen, machen den Unterschied. Erst heute habe ich mit einem Kunden darüber gesprochen, dass er sich nicht mehr von seinem Arbeitgeber unterdrücken lässt, sondern jetzt für Obdachlose kocht. Mit einer Lehrerin, die sich dafür eingesetzt hat, dass ein Kind mit geistiger Behinderung nicht mehr ausgegrenzt wird.

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